Die Virtual Reality ist in der Computerspiele-Branche nicht mehr wegzudenken. Spieler tauchen in künstliche Welten ein, die von der Realität kaum noch zu unterscheiden sind. Doch nicht nur zum Zeitvertreib, sondern auch in der Gesundheitsbranche hat VR großes Potential: ob zum Therapieren von Ängsten, Lindern von Schmerzen, Behandeln von Depressionen, zur Rehabilitation von Schlaganfallpatienten, oder um Kindern den Krankenhausaufenthalt zu erleichtern – die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig.
Angst mit VR therapierbar
20m Höhe, der Puls rast, die Beine zittern. Ein Blick in die Tiefe zeigt, wie weit weg der sichere Boden scheint. Jeder Schritt, den Turm weiter hinauf zu steigen, kostet Überwindung. Der Turm, der bestiegen werden soll, existiert nur in der virtuellen Realität. Mit solchen Szenarien lässt sich die Angst vor Höhe mit erstaunlichem Erfolg abbauen, wie Prof. Andreas Mühlberger von der Universität Regensburg von der Hochschulambulanz für Psychotherapie bestätigen kann. Auch andere Angststörungen – ob vor Spinnen, Fahrstühlen, Menschenmengen, oder Flugzeug fliegen – können bereits mit nur wenigen Sitzungen geheilt werden. „Wer es schafft, in diese Situation reinzugehen und sie auszuhalten, wird feststellen, dass die Angst von selbst nachlässt und die befürchtete Katastrophe nicht eintritt“, erklärt der Wissenschaftler.
Die Anwendung von VR für die Behandlung von Angststörungen wird bereits seit 2014 in einer Leitlinie von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaft empfohlen. Obgleich der Einsatz in den letzten Jahren noch weitestgehend auf Forschungsaktivitäten an Universitäten beschränkt war, bieten Unternehmen wie VTplus VR-Systeme mittlerweile als zugelassenes Medizinprodukt an.
Auch Schmerzen lassen nach mit VR-Brille
Vielversprechend ist der Einsatz von VR auch in der Schmerztherapie. In einer Studie von Brennan Spiegel am Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles wurde gezeigt, dass das Schmerzlevel von Patienten mit unterschiedlichen Leiden nur durch drei 10-minütige VR-Sessions am Tag über 48h signifikant geringer war als bei Probanden, die im Vergleich Fernsehprogramm schauten. Verblüffend ist, dass die Wirkung nicht nur während der Dauer der Therapie anhält, sondern sogar noch 72h danach.
Fast die Hälfte aller Patienten in Krankenhäusern leidet an Schmerzen. Deutschlandweit leiden rund 15 Millionen Menschen an chronischen Schmerzen. Der Griff zu Opioiden ist oftmals nicht vermeidbar, jedoch können diese süchtig machen und sind mit enormen Kosten verbunden. Vor einigen Monaten erst hat das Center for Disease Control and Prevention eine Mitteilung veröffentlicht, in der zur Notwendigkeit von nicht-pharmakologischen Therapien aufgerufen wird. Eine Vielzahl an Studien belegen, dass die VR-Therapie eine vielversprechende Alternative ist: Virtuelle Realität verringert nachweislich Schmerzen, Ängste, Unannehmlichkeiten, die Zeit, die mit dem Nachdenken über Schmerzen verbracht wird und die wahrgenommene Zeit, die während einer medizinischen Prozedur vergangen ist.
Wie funktioniert es?
Die Idee dabei ist ganz simpel: das Gehirn soll durch eine Überflutung mit Sinneseindrücken vom Schmerz abgelenkt werden. Am Uniklinikum Heidelberg beispielsweise tauchen Patienten beim extrem schmerzhaften Wechsel von Wundverbänden in eine Naturwelt ab. Auch im Shriners Hospital for Children in Galveston bekommen Brandopfer bei Bandagenwechsel eine VR-Brille aufgesetzt, die sie in eine Schneelandschaft versetzt, in der man Schneemänner und Pinguine mit Schneebällen bewirft. Eine 13-jährige Patientin erzählt: „Ich hatte noch nie davon gehört und war überrascht. Als ich es zum ersten Mal probiert habe, hat es mich davon abgelenkt, was die Ärzte gerade machen, das hat gegen den Schmerz geholfen.“

Photo: Hunter Hoffman
Auch bei chronischen Schmerzen wie Rückenschmerzen zeigt die VR-Therapie Erfolge. Everyday Tasks – eine virtuelle Umgebung von einem Zuhause mit Garten, in dem Patienten alltägliche Dinge verrichten wie Kochen oder Gartenarbeit, erleichtert die Ausführung von Bewegungen durch das visuelle Ablenken vom Schmerz.
Kann VR Medikamente ersetzen?
Die Studien legen nahe, dass VR eine effektive Methode ist von Schmerzen abzulenken und somit den Bedarf an Opioiden senken könnte. Ob das wirklich so ist und inwieweit eine Abhängigkeit zu dem Leiden und der Person besteht, ist Gegenstand weiterführender Studien.
Klar ist, wenn Forschungsergebnisse bestätigen dass mit VR-Therapie Schmerzen sowie andere Symptome gleichermaßen oder sogar besser gelindert werden können als mit verabreichten Medikamenten, können die potentiellen Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen enorm sein. Dr. Jens Fricke – Vorstand Consulting bei der Digitalagentur Cocomore, welche VR-Anwendungen entwickelt, ist zuversichtlich: „VR-Applikationen sind mittlerweile aus der Gesundheitsbranche nicht mehr wegzudenken. Sie haben das Potenzial, Probleme effizient und wirtschaftlich verträglich zu lösen“.
Kurz und knapp:
Virtual Reality hält Einzug in der Gesundheitsbranche. Ängste können durch das Hineinversetzen in simulierte Szenarien überwunden werden. Studien zeigen außerdem vielversprechende Erfolge, durch Ablenkung mittels VR akute sowie chronische Schmerzen lindern zu können. Ob der Ersatz von Medikamenten durch VR realistisch ist und in welchen Situationen, ist Gegenstand aktueller Forschung.